1865 | synagogen-Ordnung für die Synagogen-Gemeinde Petershagen

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland 
Zum Festjahr 2021

Uwe Jacobsen 
Liturgische Charakteristika des Synagogengottesdienstes in Petershagen nach der Ordnung von 1865.

Das Dokument hebt die Synagoge Petershagen als den zentralen Ort des Gottesdienstgeschehens im Synagogenbezirk hervor und steht ausschließlich im Dienst dieser Funktion. Weitere Zwecke, z. B. Versammlungen, bedürfen der Zustimmung des Synagogenvorstandes (§ 1-2). Der Gemeindelehrer, der in der Ordnung zugleich als Gemeindebeamter, Religionsdiener, Vorbeter oder Kantor bezeichnet wird, vertritt die Position eines Geistlichen. Er ist in allen Fragen der Seelsorge, der Gottesdienstleitung, der religiösen Handlungen und des Religionsunterrichtes leitendes Organ und nur der Repräsentantenversammlung gegenüber verantwortlich (§ 3 der Ordnung, § 30-35 des Statuts). Der Gebrauch der deutschen Sprache in den Predigten an Hauptfesten, am Vorabend des Versöhnungstages und in den wöchentlichen Erbauungsandachten belegt die Durchführung von Kultusreformen in Petershagen. Es schlossen sich den Predigten wie in den christlichen Gottesdiensten deutschsprachige Gebete für die Gemeinde und den König an. Gemäß der Leseordnung, die den Jahreszyklus in 54 Wochen durchlief, konnte auch eine Andacht über Texte der Prophetenbücher (Haphtarah) zu den Aufgaben des Lehrers gehören (§ 4). Die Lesung der Haphtarah in deutscher Sprache traf in Petershagen auf Kritik von liberaler Seite.

Der Reformwille der Petershäger Gemeinde äußerte sich in einer nach christlichen Vorbildern gestalteten Konfirmation. Charakteristischerweise war sie am Seminarstandort Petershagen mit einer öffentlichen Religionsprüfung am Laubhüttenfest verknüpft (§ 5). Die Konfirmation trat nicht wie anderenorts an die Stelle einer persönlichen Bar Mizwa, die vorangig der Vermittlung synagogaler Fertigkeiten diente. Dies geht aus den Stolgebühren des Lehrers hervor, der sowohl für die Konfirmation als auch für die Bar Mizwa gesonderte Vergütungen bezog (§ 22). Die Gemeinde koppelte vielmehr die Schulentlassung der vierzehnjährigen Kinder, Mädchen und Jungen, an eine zentrale Feier am Schawuoth, in der die Zugehörigkeit zum Judentum und die Stiftung des Dekalogs feierlich bekräftigt wurden (§ 5). Damit entsprach der Eintritt in das Erwachsenendasein aufgrund religiöser Mündigkeit den regionalen Gepflogenheiten von Konfirmation und Erstkommunion im konfessionellen Umfeld. 

Die Repräsentanten regelten ihre Anwesenheit beim „Seganstehen“, der Präsenz eines Würdenträgers (Segan) im zentralen Teil des Gottesdienstes, gemäß eines gesonderten Buches, „Seganbuch“ genannt. Es enthielt auch die tradierte Ordnung für den Aufruf zur Thoravorlesung, der Alijah laTorah: „Die Thoravorlesung findet unter Beteiligung der Gemeinde statt, aus deren Mitte je nach der Bedeutung des Tages mindestens drei, aber auch sieben und mehr Mitglieder zu Tora ‚aufgerufen‘ werden. Der Vorbeter liest einem jedem nach einer traditionellen Melodie, ‚der uralt hergebrachten Singsangweise, Tropp geheißen‘, ein Stück vor; vor und nach der Vorlesung wird von dem Aufgerufenen ein Segen gesprochen.“ In Petershagen rief man zur Alija auf, indem der Religionsdiener nummerierte Karten vorab verteilte, um den Gottesdienstablauf auf diese Weise nicht zu  unterbrechen (§ 9). Eine Ausnahme bildeten hierbei die Aufrufe der „Chijubim“, der sogenannten Thorapflichtigen, der „Schebii“, derjenigen, die an siebenter Stelle einen Aufruf zur Thora erhielten, und des „Maftir“ an achter und letzter Position. Er schloss den Lesungsteil mit einer „Haphtorah“, einem Abschnitt aus den prophetischen Büchern (Nevi’im), die in Petershagen in deutscher Sprache gelesen wurden, ab. Die Einschränkungen erfolgten aus rein pragmatischen Gründen. Da der Lehrer an Tagen, an denen er laut Statut eine Predigt zu halten hatte, „chijub“, also thorapflichtig war, und an diesen Tagen zugleich eine Prophetenlesung erfolgte, übernahm er an siebenter Stelle den Abschluss der Thoravorlesung und setzte sie als „Maftir“ mit der „Haphtorah“ und deutscher Predigt fort. Der vielfach gepflegte Brauch die sogenannten Synagogenehren für wohltätige Zwecke zu versteigern, z.B. das Recht zur Alija an der abschließenden oder eröffnenden Lesung im Zyklus der Wochenabschnitte – Chasan Thora bzw. Chasan Bereschith -, ist in Petershagen nur noch auf das Thorafreudenfest begrenzt (§ 9). Die abschließenden Paragraphen „Von der Ruhe und Ordnung während der Andacht“ sprechen für sich. Sie spiegeln die Konflikte des Gemeindelebens zu Beginn des 19. Jahrhundert wider. (Ende des Textauszugs, September 2021. Quellen auf Anfrage)

[Beginn der Quelle. Buchstabengetreue Transkription nach dem Urtext. Jac 2021]

Synagogen-Ordnung für die Synagogen=Gemeinde Petershagen.

[07 VS] Von der Feier des öffentlichen Gottesdienstes.

§ 1
An Sabbathen, Ganz= und Halbfeiertagen ist es Niemandem erlaubt, außerhalb der Synagoge öffentlichen Gottesdienst zu halten.

§ 2
Die Synagoge ist lediglich zur Abhaltung des Gottesdienstes und Verrichtung anderer religiöser Handlungen bestimmt, und darf zu anderen Zwecken ohne Genehmigung des Vorstandes nicht benutzt werden.

§ 3
[07 RS] Die Leitung des öffentlichen Gottesdienstes und die Verrichtung geistlicher Handlungen in der Synagoge liegt dem angestellten Religionsdiener ob. (§ 35 des Gemeinde Statuts) Er hat sich möglichst streng an den vorgeschriebenen Ritus zu halten. Erhebliche Aenderungen in den bisherigen inneren Cultus Einrichtungen dürfen ohne Genehmigung der Gemeinde Vertretung nicht vorgenommen werden. § 34 d[es] St[atuts]

§ 4
Der Geistliche muß wenigstens am ersten Tage der Hauptfeste, sowie am Vorabend des Versöhnungstages predigen. An den gewöhnlichen Sabbathen hält er [08 VS] nach Vorlesung des Thora Abschnittes in deutscher Sprache eine kleine erbauliche Betrachtung über die gehörte Sidrah oder Haftarah und verbindet damit das Gebet für Gemeinde und König.

§ 5
Die Confirmation resp. feierliche Entlassung der vierzehnjährigen Schulkinder soll an den Vormittags-Gottesdienst des ersten Schebuothtages angeschlossen werden, die öffentliche Religions=Prüfung der Schuljugend dagegen mit dem Nachmittags=Gottesdienste am ersten Tage des Suckothfestes verbunden werden.

[08 RS] § 6
Der Morgen=Gottesdienst an Sabbath und Festtagen – Neujahr und Versöhnungstag ausgenommen – fängt im Sommerhalbjahr vom Sabbath Hagodol bis zum Sabbath Baraschithum acht Uhr an, im Winterhalbjahr kann derselbe um neun Uhr beginnen. Die Zeit des Anfangs anderer öffentlicher Andachten soll an der in der Synagoge befindlichen Tafel durch den Geistlichen angezeigt werden; die Stadtuhr ist maßgebend. 

§ 7
Das Vorbeten an den gewöhnlichen Sabbathen soll in der Regel nur von dem [09 VS] angestellten Vorbeter (§ 3) geschehen. Im Behinderungsfalle kann derselbe sich durch ein qualificiertes Individuum vertreten lassen. An den Tagen, an welchen gepredigt wird sowie überhaupt an den Fest[-] und Feiertagen sorgt der Vorstand für eine geeignete Vertretung des Cantordienstes.

§ 8
Die Funktion des Seganstehens soll von den jedesmaligen Vorstands-Mitgliedern und dem Repräsentanten-Vorsteher nach einer unter sich festzustellenden Reihenfolge geschehen. Wenn diese Herren nicht anwesend sind, übernimmt das älteste Gemeinde-Mitglied in der Versammlung [09 RS] die Vertretung. 

§ 9
Das Aufrufen der Gemeinde-Mitglieder geschieht möglichst nach dem Alter und nach der durch das Seganbuch vorgeschriebenen Ordnung, wobei jedoch Chijubim, Schebii und Maftir eine Ausnahme machen. Wer bei Vertheilung der Karten zum Aufrufen nicht anwesend ist, hat fortan keinen Anspruch in der laufenden Reihenfolge berücksichtigt zu werden. Chijub ist der Prediger an den Tagen, wo er predigt. Am Neujahrs= und Versöhnungstage sowie am Freudenfeste der Thora wird die Reihenfolge unterbrochen und [10 VS] der bisherige Usus befolgt. Am jedesmaligen Sabbath Bereschith beginnt das Aufrufen von neuem, unberücksichtigt, ob die laufende Reihe zu Ende ist. Der Verkauf von Chasan Thora und Chasan Bereschith soll nach Schluß des Abend=Gottesdienstes von Simchat Thora Statt finden.

Von der Ruhe und Ordnung während der Andacht.

§ 10
Jeder muß still und ruhig in die Synagoge kommen, beim Öffnen und Schließen der Thüren möglichst Vorsicht beobachten, und sich geräuschlos auf seinen ihm von Vorstande angewiesenen Platz stellen. 

[10 RS] § 11
Das Begrüßen des Eintretenden oder das Bewillkommen eines abwesend gewesenen Mitgliedes oder Freunden ist strengstens untersagt.

§ 12
Es ist Alles zu vermeiden, was Geräusch oder Störung der Andacht veranlassen kann, namentlich das überlaute Beten, das Mitsingen mit dem Vorbeter, das Sprechen mit dem Nachbar, Zusammenlaufen, Scharren mit den Füßen, das geräuschlose Öffnen und Schließen der Betpulte, das Herumreichen des Schnupftabaks und alle Danksagungen für alle Mitz- [11 VS]woth und Segenssprüche.

§ 13
Das Verlassen der Synagoge muß jederzeit still und geräuschlos geschehen. Das Stehenbleiben in den Gängen, sowie in den Gängen des Schulhauses ist streng untersagt.

§ 14
Den Mitgliedern des Vorstandes und dem Repräsentanten=Vorsteher steht die Aufsicht über den Gottesdienst zu. Sie sorgen dafür, daß Alles entfernt wurde, was die Andacht stören, die Theilnahme am öffentlichen Gottesdienste hindern könnte. Sie wachen insbesondere über die Be- [11 RS] folgung der Synagogen=Ordnung und handhaben dieselbe streng ohne Ansehen der Person.

§ 15
Nichtschulpflichtige Kinder dürfen nur am Freudenfeste der Thora in die Synagoge gebracht werden; für das ruhige Verhalten der Minderjährigen sind die Angehörigen verantwortlich.

§ 16
Vorstehende, die Ruhe und Ordnung betreffende Vorschriften gelten ebenfalls für die Frauen=Abtheilung.

Von den Beerdigungsfeierlichkeiten.

§ 17 [12 VS]
Bei Beerdigungsfeierlichkeiten soll der Religionsdiener, wie die Beerdigung zu veranstalten sei, mit den Angehörigen und dem Synagogen=Vorstand Rücksprache nehmen. Soll der Geistliche an der Grabstätte oder im Trauerhause eine Rede halten, so muß er längstens innerhalb 24 Stunden nach dem Absterben von dem Betreffenden drum ersucht werden. 

§ 18
Jedwede Störung, namentlich das laute Sprechen Zurechtweisen u.s.w. während der Trauerandacht im Trauerhause und auf dem Friedhofe muß vermieden werden. Der Religionsdiener trifft die nö= [12 RS] thigen Anordnungen, leitet die Feier, und spricht die vorgeschriebenen Gebete, welche von den Anwesenden leise mitgebetet werden.

Allgemeine Bestimmungen.

§ 19
Die Gemeinde=Miltglieder haben zu ihren religiösen Handlungen sich des Religionsdieners der Synagoge zu bedienen. Wenn mit Genehmigung des Vorstandes und des Geistlichen ein Auswärtiger eine Trauung vollzieht, so sind dem hiesigen Prediger mindestens zwei Thaler Stolgebühren zu entrichten.

§ 20
Chijubim haben dem Segan oder Religions- [13 VS] diener die nöthige Anzeige zu machen, weil dieselben sonst bei Vertheilung der Karten zum Aufrufen nicht berücksichtigt werden können. Will Jemand, daß bei dem ersten Synagogen=Gang einer Wöchnerin für dieselbe ein Gebet gesprochen werden soll, so hat derselbe solches Tags vorher dem Geistlichen anzuzeigen.

§ 21
Das Entfernen aus dem Gotteshause während des Vorlesens aus der heiligen Thora sowie jedwede Störung während des deutschen Theiles des Gottesdienstes, der Predigt, des Gebetes für Ge= [13 RS] meinde und König sollen mit dem höchsten Strafsatz belegt werden.

§ 22
Dem Religionsdiener der Gemeinde sind für folgende religiöse Handlungen, welche er auf Wunsch des Betreffenden vollzieht Stolgebühren zu entrichten, deren Höhe dem Ermessen jedes Einzelnen überlassen bleibt.

a, für Beschneidungen,
b, für Trauungen
c, für ein Gebet beim ersten Synagogenbesuch einer Wöchnerin,
d, für eine Barmitzwah
e, für eine Confirmation [14 VS]
f, für eine Leichenrede

§ 23
Alle in vorliegender Synagogen Ordnung getroffenen Bestimmungen haben, soweit sie Anwendung finden können, auch für die Bethäuser in unserem Synagogen=Bezirk in Frille und Schlüsselburg [Hervorhebungen im Original] dieselbe Gültigkeit. 

§ 24
Übertretungen von vorgenannten Anordnungen werden vom Vorstande mit 10 Sgr. bis 2 Thlr. belegt; ist eine Störung derartig,  der Gottesdienst unterbrochen wird, so hat der Vorstand die gerichtliche Untersuchung und Bestra= [14 RS] fung  zu veranlassen. 

§ 25
Die vorstehende Synagogen=Ordnung soll, so oft es nothwendig erscheint, einer Revision unterworfen werden, und etwaige Abänderungen, nach[dem] dieselbe die vorgeschriebene gesetzliche Genehmigung erhalten, hier annectirt und zu gleicher Kraft erhoben werden.
Petershagen, den 25 December 1865.
Der Synagogen Gemeinde=Vorstand
gez. Moses Block.  I[srael] Lindemeyer. [Raphael] Lazarus.

Vorstehende Synagogen=Ordnung wird unserseits in allen Punkten [15 VS] genehmigt.
Petershagen, den 14. Februar 186[6]
Die Repräsentanten Versammlung.
gez.   Sabelson. Magnus Block. Wolf Poly
M. Poly. J Scheurenberg. Itzig Block. Herz Herz.

Vorstehende Synagogen=Ordnung wird hierdurch von uns genehmigt.
Minden, den 6ten April 1866.
Königliche Regierung[,] Abtheilung des Inneren[,] v Nordenflycht 

[…] Vorstehende abschriftl. Syagogen=Ordnung stimmt mit dem Original wörtlich überein.
Petershagen, 22. May 1866
der Synagogen=Gemeinde=Vorstand[,] [Raphael] Lazarus

Quelle
Landesarchiv NRW – Abteilung Ostwestfalen-Lippe – Archivsignatur LAV NRW OWL M1 I L Nr. 296. Mit freundlicher Genehmigung. 

Quelle
Landesarchiv NRW – Abteilung Ostwestfalen-Lippe – Archivsignatur LAV NRW OWL M1 I L Nr. 296. Mit freundlicher Genehmigung.