1960 | Martin Bodenstein: "Weine nicht Mutti, wir kommen ja wieder"

Freie Presse Bielefeld – Sonnabend, 30. Januar 1960 

„Weine nicht Mutti, wir kommen ja wieder“ 

Der Weg von zwei Überlebenden in Berichten und Dokumenten 

Herr Max B. ist einer der wenigen Juden aus Petershagen, die das Dritte Reich überlebt haben. Sein Schicksal steht schwarz auf weiß in den Akten, die er in mehreren dicken Mappen in seiner Wohnung aufbewahrt. Sie spiegeln den kalten Terror der NS-Bürokratie wieder. Zunächst sein Lebenslauf in Stichworten, mit dem Herr B. nach dem Kriege eine amtliche Eingabe einleitete:

Schilderung des Verfolgungsvorganges:

„Als Volljude unterlag ich den allbekannten Schikanen der NS-Regierung. Trotz meiner Eigenschaft als Schwerkriegsbeschädigter wurde mir schon vor der Novemberaktion 1938 meine Stellung gekündigt. Jede Bewerbung um einen neuen Arbeitsplatz erwies sich als zwecklos. Mein Vermögen unterstand der Sicherungsverwahrung, Fahrrad und Radioapparat wurden mir entschädigungslos nach Kriegsausbruch abgenommen. Ich hatte den Judenstern zu tragen, durfte meinen Wohnort nicht verlassen, wurde im Zuge der Novemberaktion am 10. November 1938 in Haft genommen und für 17 Tage in das KZ Buchenwald eingeliefert. Durch die dauernden Aufregungen wurde ich 1941 nervenkrank, und zwar in solchem Maße, daß man mich, den man im Oktober 1944 aus dem Bett heraus in das Auffanglager Bielefeld zum Abtransport nach Theresienstadt einlieferte, als einen von nur wenigen wegen Transportunfähigkeit wieder nach Haus entließ…“

Auch für Herrn B. traf die polizeiliche Verordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941 zu: 

„Nach § 1 der Verordnung ist es Juden, die das 6. Lebensjahr vollendet haben, verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen. Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der Aufschrift ‚Jude‘. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite der Kleidungsstücke fest aufgenäht zu tragen.“

Am 16. Dezember 1941 schrieb seine Frau einen Brief nach Berlin, von dem sie sich Milderung wenigstens dieser Schikane erhoffte, Sie schrieb unter anderem: 

„Sehr geehrter Herr Reichskriegsopferführer!

Als arische Ehefrau eines 70prozentigen jüdischen Schwerkriegsbeschädigten, der im Weltkrieg u.a. sein Gehör vollständig verloren hat, richte ich an Sie, sehr geehrter Herr Reichskriegsopferführer, als Leiter der NS-Kriegsopferversorgung … die inständige Bitte, sich bei der zuständigen Stelle dafür einsetzen zu wollen, daß mein ertaubter schwerkriegsbeschädigter Gatte von der Verpflichtung, den sog. Judenstern zu tragen, befreit werden möge … Mein Mann, der Jude Max Israel B., wohnhaft in P…, wurde im September 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, im Dezember 1917 zum Gefreiten ernannt und im April 1918 zum Unteroffizier befördert. Im Februar 1918 erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse. Im April des gleichen Jahres wurde er durch Brust- und Oberschenkelsteckschüsse verwundet. Obendrein haben die mannigfachen schädigenden Einwirkungen des Kriegsdienstes seine vollkommene Ertaubung im Gefolge gehabt. Heute ist die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit durch das zuständige Versorgungsamt Bielefeld mit 70 Prozent anerkannt … Mein Gatt … dessen große Liebe trotz aller ihn bedrückenden Verhältnisse auch heute noch Deutschland heißt … hat für sein Vaterland geblutet und sein Gehör verloren. Weshalb soll nicht auch ihm der Dank des Vaterlandes zustehen? Sehr geehrter Herr Reichskriegsopferführer, setzen Sie sich bitte dafür ein, daß mein Mann wenigstens von der Verpflichtung zum Tragen des Judensternes entbunden wird. Sie würden mir das aIlerschönste Weihnachtsgeschenk machen und uns allen … zu einem kleinen Lichtblick in die Zukunft verhelfen. Mit innigem Dank im voraus erwarte ich im Vertrauen auf Ihre Rechtlich- und Gerechtigkeit den sehnlichst erhofften Entscheid.“

Dieser Weihnachtswunsch wurde nicht erfüllt.

Wie Tausende und aber Tausende seiner Leidensgenossen musste Herr Max B. seinem Vornamen einen zweiten hinzufügen. So bestimmte es die „2. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 1. Januar 1939″: 

„Hiernach dürfen Juden nur solche Vornamen beigelegt werden, die in den vom Reichsminister des Inneren herausgegebenen Richtlinien aufgeführt sind. Soweit Juden solche Vornamen (jüdische Vornamen) nicht führen, haben sie zusätzlich zu ihren Vornamen vom 1. Januar 1939 ab den Vornamen „Israel“ (für Männer) und „Sara“ (für Frauen) zu führen.“

Auch Herr B. mußte mit der Lebensmittelkarte für Juden sein Leben fristen. Er bat um ein bißchen Menschlichkeit. Sie wurde ihm verwehrt:

Betr. Lebensmittelzuteilung für jüdische Kriegsverwundete.

Hierdurch teilen wir mit, daß das Landesernährungsamt in Münster uns am 9. März 1943 mitgeteilt hat, daß es bei der Verweigerung der vollen Lebensmittelkarten sein Bewenden haben muß, da die in Frage kommende Einspruchsbehörde sich mit der Begründung des Ernährungsamtes Abt. B. in Minden einverstanden erklärt hat.“ 

Wenn der Empfänger dieses Schreibens nicht gute Freunde in der Stadt gehabt hätte, wäre er verhungert. Trotz seines Leidensweges hat er heute keinen Haß auf seine Landsleute. 

Keinen Haß empfindet auch Frau Margot S. Sie ist – neben einer anderen Leidensgefährtin – die einzige Jüdin aus Petershagen, die das Konzentrationslager überlebt hat. Da ihr die höhere Schule in jenen Jahren verschlossen war, ging sie 1939 zur Gartenbauschule nach Ahlem und später auf eine Haushaltungsschule. Da beides jüdische Einrichtungen waren, stand sie auch hier bald vor verriegelten Türen. Weil sie sonst keine Aussicht hatte, etwas anderes zu lernen, machte sie einen Kinderpflegekursus in Berlin mit. Das war Ostern 1940. 

Dezember 1941 wurde auch diese Schule aufgelöst, die Leiterin, eine Jüdin, nach Riga deportiert. Wieder stand Margot S. auf der Straße. In ihrer Tasche knisterte ein Brief ihrer Mutter von daheim: „Komm nach Hause, Kind, es ist wohl bald Schluß.“ 

Das Mädchen Margot teilte diese müde Resignation nicht, noch nicht. Aber sie fuhr nach Hause. Dann ging sie zu Bekannten nach Schlüsselburg. Dort zog sie sich einen Knochenriß an einem ihrer Füße zu. Der Arzt riet ihr dringend, sich im Krankenhaus Minden röntgen zu lassen. Margot wollte, diesem Rat folgen. Ihre Mutter begleitete sie. Auch im Krankenhaus war der diensthabende Arzt der Ansicht: „Ihr Fuß muß schleunigst geröntgt werden.“ Da sagte die Mutter. „Herr Doktor, ich möchte Sie aber darauf hinweisen, daß wir keine Arier sind.“ Die Antwort war eine verlegene Geste und: „Dann können wir Sie leider nicht behandeln.“ So mußte Margot, als sie mit ihrer Mutter wenige Tage später ihren Leidensweg mit einem Schuh und einem Pantoffel – an ihrem kranken Fuß – antreten. 16 Jahre war sie damals alt, und ihre Mutter weinte. „Weine doch nicht, Mutti“, versuchte Margot sie zu trösten, „wir kommen ja bald wieder.“ Doch für ihre Mutter war es eine Reise ohne Wiederkehr. 

Erste Station war die Bielefelder Sammelstelle, zweite Station das Rigaer Getto. Dort wurde ihr die Mutter bald von der Seite gerissen. Sie hat sie nie wiedergesehen. Jeden Tag wurden auf diesem Umschlagplatz des Todes Menschen aussortiert, deportiert. Immer wieder kam neue Fracht für die Vernichtung, Waggon nach Waggon. Viele der Insassen waren tot, viele hatten erfrorene Füße. Wie Sträflinge wurden ihnen die Kopfhaare abrasiert, und jeden Tag hingen Menschen am Galgen. „Doch das Schlimmste war, wenn wieder ein unendlich langer Tag sein Ende hatte, und wir von der Arbeit zurückkamen, daß man nie sagen konnte: Jetzt komme ich nach Hause.“ 

Dann standen ein paar Wochen Landarbeit irgendwo außerhalb auf dem Programm der SS. Als Margot S. zurückkehrte – es war der 4. November 1943, diesen Tag wird sie nie vergessen -, kam sie in ein geisterhaft stilles Getto. Es war leer gemacht: die Bevölkerung teils erschossen, teils deportiert. Auch Margot mußte fort, diesmal nach Riga-Kaiserwald in ein Konzentrationslager. Rechts das Frauenlager, links das Männerlager und in der Mitte Stacheldraht. Wieder Arbeitseinsatz, wieder täglich Aktionen mit dem Ziel, die Zahl der Insassen drastisch zu verringern. Einer der Aufseher war ein deutscher Schwerverbrecher, er sollte seine ganze Familie umgebracht haben. Manchmal, wenn morgens sein Arbeitskommando zur Düna ausrückte, qab einer der schwarzuniformierten Lagergewaltigen den Befehl: „Wenn Sie sich heute abend zurückmelden, bringen Sie hundert Leute weniger mit!“ Der Kapo führte den Befehl aus. 

Margot hatte Glück. Letzte Station des Grauens war das Vernichtungslager Stutthof bei Danzig. Sie überlebte auch das. Ein paar Wochen Arbeit im Tiefbau. Dann kam das Ende des Krieges, und sie war frei. Heute wohnt sie in F. im Kreis Minden. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder. Auf die Frage, was sie über die neue Welle des Antisemitismus in der Bundesrepublik denkt, zuckt sie die Schulter. Sie hat noch schrecklichere Dinge erlebt. „Aber für meine Kinder sehe ich keine Zukunft“, sagt sie zum Abschied. 

Link >> Das Novemberpogrom 1938
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Freie Presse Bielefeld. Sonnabend, 30. Januar 1960. Ein Beispiel für gelungene Erinnerungsarbeit.

Der jüdische Friedhof Petershagen im Mai 2021.