1800 | Pestalozzi und die Pädagogik der Aufklärung

Preußischer Pestalozzianismus

Pädagogik der Aufklärung

Die Seminarleitung in Petershagen beschäftigte sich kurz nach 1800 mit den Schriften des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (17461827). Ein Bericht des Konsistorialrats Christian Bröckelmann (Superintendent in Petershagen von 1797-1816) verzeichnete 1808, dass die Kandidaten im Seminar zu Petershagen „das Anwendbarste von der Pestalozzischen Methode“ in der Übungsschule verwandten. Bereits Georg Heinrich Westermann hatte 1779 das Philanthropinum Dessau besucht, die Reformschule Basedows, deren Pädagogik er vor Ort kennenlernen wollte.

Pestalozzi trat dafür ein, die natürliche Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Dabei griff er auf die Dreiteilung „Kopf, Herz und Hand“, die für Intellekt, Sitte und praktische Fähigkeiten stand, zurück. Im Bereich Herz, Sittlichkeit und Gemüt bildeten elementare Gefühle von Liebe und Vertrauen die Grundlage für höhere Fertigkeiten bis hin zur Stufe der religiösen Gottesverehrung.

Beiträge zur Vermittlung der Pestalozzischen Lehrmethode in unserer Region leisteten die Schaumburg-Lippische Schulreform, besonders aber der Einfluss des Berliner Bildungspolitikers Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767-1839), der sich engagiert für die Entwicklung des Schulwesens in der Provinz Westfalen und auch in Petershagen einsetzte. Nicolovius stand in verwandtschaftlicher Beziehung zu dem Petershäger Pfarrer, Seminarlehrer und späteren Präses der westfälischen Provinzialsynode, Bernhard Jakobi (1801-1843). Dieser war ein Enkel von Matthias Claudius und ein Enkel des mit Nicolovius freundschaftlich verbundenen Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819). Bernhard heiratete Cornelia Nicolovius (1803-1833), eine Tochter des Ministerialdirektors. Nicolovius leitete als Staatsrat das Ressort Kultus und öffentlicher Unterricht im Preußischen Innenministerium. Zu seinem Freundeskreis zählten die Größen seiner Zeit, Humboldt, Klopstock, Claudius, Lavater und vor allen Dingen Pestalozzi.

 

Pestalozzianismus

Die Pädagogengeneration, die in der Epoche der monarchischen Restauration wirkte, hielt an der Pädagogik Pestalozzis fest: „The Pestalozzian idea had been introduced into Prussia at a time when the maintenance of any sort of public institution was an extremely difficult matter. In spite of all the odds against them we find a great number of men, fired with the spirit of von Stein and Pestalozzi, establishing normal schools and turning out large numbers of well-trained teachers. Some of the more important were: Grassmann, director of the normal school in Stettin; Möller, director of the normal school in Erfurt; Diesterweg, director of the normal school in Mörs, and Vormbaum, director of the normal school in Petershagen.“

Friedrich Vormbaums religionspädagogisches Interesse galt einer Förderung der durch die Aufklärungspädagogik vermittelten religiösen Anlage des Menschen: „Es wird hoffentlich die Zeit nicht mehr fern sein, daß ein kräftiger, lebendiger Geist den Unterricht durchdringt und statt des jetzt noch vielfach vorherrschenden Gedächtniskrames und Lippenwerkes den Schüler belebt.“ In ähnlicher Weise hatte zuvor Gieseler die moralische Vorbildfunktion des Lehrers hervorgehoben: „Denn wir betrachten unsre Volksschullehrer jetzt nicht mehr als Männer, die bloß einen gewissen mechanischen Unterricht geben, zum Lesen und Schreiben die Jugend abrichten. Nein, wir betrachten sie als Männer, die eine viel edlere Geistesarbeit thun, die die Volksjugend aufklären und erziehen sollen! Sie sind also moralische Lehrer, und ihr Werk ist nicht, oder soll nicht seyn, Hand und Lungenwerk, sondern Geisteswerk.“

Vormbaums Biographie war geprägt durch seinen Einsatz für das Schulwesen und den Aufbau des Seminars (1814 Kantor und Schullehrer, 1827 Rektor, 1831 Seminardirektor). Im Auftrag des Konsistoriums visitierte er Volksschulen in ganz Preußen. Seine Reiseberichte spiegelten die Schulwirklichkeit des Vormärz wider. Vormbaums Mitarbeit in der Berliner Direktorenkonferenz 1849, die Kultusminister Adalbert von Ladenberg eingesetzt hatte, um die Beschlüsse der Preußischen Nationalversammlung vom 5.12.1848 zur Vorbereitung des Unterrichtsgesetzes auszuarbeiten, trug ihm die Kritik Adolph Diesterwegs ein, zu dessen Mitarbeitern er zeitweise gehörte. In Anspielung auf Vormbaums Preußentum bezeichnete Diesterweg das Seminar in Petershagen spöttisch als das „Landhaus an der Heerstraße“.

Zu den Entscheidungsfreiheiten der Seminardirektoren gehörte es, nach eigenem Ermessen vom Prinzip der Konfessionalisierung abzuweichen. So durchliefen bis zur Mitte des Jahrhunderts 14 jüdische Schullehrer erfolgreich das Petershäger Seminar. Vormbaum adressierte seine Lehrwerke ausdrücklich „an alle Religionsverwandte“.

Gartenbau als Teil der Seminarausbildung (1846)

Freiherr Ludwig von Vincke (1774-1844) förderte beständig die Entwicklung der Seminararbeit in Petershagen. Auf seine Anregung hin nahm die Institutsleitung die Feld- und Gartenarbeit nach dem Vorbild Pestalozzis in den Lehrplan auf. Dieses Vorgehen führte die Seminaristen an ein praktisches, gesundes und ökonomisch sinnvolles Arbeiten heran. Der Unterricht im Gartenbau begann 1846, nachdem geeignete Grundstücke bereitgestellt worden waren. Er leistete durch die Vermittlung entsprechender Kulturtechniken einen Beitrag zur Überwindung der sozialen Not in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Seminargarten befand sich spätestens seit 1885 zwischen dem nördlichen Ösperlauf an der Bremer Straße und den Seminargebäuden. 

Vormbaum berichtete 1856: „Der Gartenbau bietet die mannichfaltigsten Arbeiten dar. Der unmittelbar am Seminargebäude belegene große und schöne Garten ist in drei Abtheilungen gebracht, von welchen die erste zur Blumenzucht, die zweite als Baumschule und die dritte zum Gemüsebau benutzt wird. Da muß gedüngt, gegraben, gehackt, gepflanzt und behackt, in der an 1000 Stämmchen enthaltenden Baumschule gepfropft und oculirt werden; die Blumenbeete sind zu besäen und zu reinigen, Blumen und Sträucher aufzubinden, Wege, Bosket und die übrigen Parthien sauber zu halten. In den Freistunden können sich die Zöglinge im Garten ergehen; außerdem haben sie von 12 bis 2 Uhr Zeit, einen größeren Spaziergang zu machen.“

Konfessionalisierung und Gastzutritt (1833)

Die Ausbildung in den Seminaren erfolgte getrennt nach Geschlechtern und Konfessionen. Der entsprechende Gesetzespassus lautete: „Die Seminare sind confessionell in evangelische, katholische und jüdische, insofern provinzweise für letztere ein Bedürfniß vorhanden ist, geschieden. In jedes Seminar steht indessen auch Mitgliedern anderer Confessionen der gastweise Zutritt offen, in welchem Falle Dispensation vom Religionsunterricht eintritt.“

Der jüdische Lehrer Simon Ruben, dem Vormbaum den Besuch des Seminars ermöglichte, resümierte: „Wenn die Behauptung aufgestellt wird, das Seminar in Petershagen nehme israelitische Zöglinge nur deshalb auf, um sie zu Proselyten zu machen, so documentirt eine solche Behauptung nur die gänzliche Unbekanntschaft des betreffenden Verfassers mit den in dem Petershager Seminare obwaltenden religiösen Verhältnisse. Wer den Religionslehrer am Seminare kennt, der weiß, daß derselbe, wenngleich ein lebendiger, wahrhaftiger Christ, doch niemals auch nur mit einer Sylbe die israelitischen Seminaristen zum Abfall zu bewegen sucht; im Gegentheil, er hat mich zur strengsten Feier und Heilighaltung des Sabbaths und der anderen Festtage angehalten. Außerdem haben die Seminarlehrer darüber berathen, wie die Unterrichtsstunden zweckmäßig zu verlegen seien, damit ich nicht gezwungen werde, unser Sabbathgesetz zu übertreten. – Dies alles sind einfache, wahre Thatsachen.“

Der liberale Theologe Dr. Bernhard Jakobi, ein Schüler Schleiermachers, übernahm 1833 als nebenamtlicher Seminarlehrer den Religionsunterricht. Sein Redekonzept, mit dem er den Unterricht am Seminar eröffnete, blieb erhalten: „Diese Verschiedenheit des Stoffes bedingt auch eine Verschiedenheit in der Form des Unterrichts. Eben weil Sie im Christenthum schon verschiedentlich unterrichtet [worden] sind, kann ich Vieles als bekannt voraussetzen, da es [mir] am meisten auf Ordnen des Stoffes, auf Einsicht in den Zusammenhang, in Wesen und Organismus der christlichen Lehre ankommt. Es wird die freieste Form des Unterrichts sein; viel Gespräch; ein unmittelbareres, herzlicheres Mittheilen als in der gewöhnlichen Unterrichts-Form.

Zum Grunde legen wir das apostolische Glaubensbekenntniß, die älteste, zwar kurze, aber alles Wesentliche umfassende Form christlicher Lehre. Dazu benutzen wir hauptsächlich die Erklärung desselben von Luther, im kleinen Katechismus. Die übrigen Hauptstücke desselben flechten wir gehörigen Ortes hinein.

Zur Erläuterung, Vorbereitung, Wiederholung dient Ihnen der große lutherische Katechismus, den ich Ihnen nicht genug empfehlen kann. Lassen Sie ihn ihr Lehrbuch, Lesebuch, Erbauungsbuch [sein]. Machen Sie sich durch und durch mit ihm bekannt, eignen Sie ihn sich ganz an, in Kopf, Herz und Gedächtniß; Sie gewinnen damit einen Schatz, dessen ganzen Werth Sie erst später würdigen werden. Ich setze die Bekanntschaft mit seinem Inhalte beim Unterrichte voraus. Diktieren werde ich nichts. Das verführt zum Gedächtnißwerk.“

Georg Heinrich Westermann (1752-1796)

Gründer des Kleinen Lehrerseminars. Superintendent und Erster Pfarrer in Petershagen von 1783-1796. Pädagoge in der Tradition des Rationalismus. Ein Denkmal in der Altstadt erinnert an ihn.

Georg Christoph Friedrich Gieseler (1760-1839)

Zweiter Pfarrer in Petershagen von 1790-1803. Päd­agogischer Leiter des Seminars. Didaktische Veröffentlichungen. Sein Einsatz galt der Lehrerfortbildung und dem Konferenzwesen im Fürstentum.

Friedrich Wilhelm Vormbaum (1795-1875)

Kantor, Religions- und Geschichtspädagoge. Seminardirektor 1831. Mitglied der Berliner Direktorenkonferenz 1849. Vertreter des preußischen Pestalozzianismus. Veröffentlichung von Lehrbüchern.

Quellen: Thomas Alexander: The Prussian elementary school, New York 1909. Bild- und Quellensammlung der Ortsheimatpflege Petershagen.
(Text: Uwe Jacobsen 2014)