1938 | Das Novemberpogrom in Petershagen
Das Novemberpogrom 1938 in Petershagen
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit
09. November 1938
20.00 Uhr
Die Ortsgruppe der NSDAP gedenkt im Rahmen einer Feierstunde des gescheiterten Hitlerputsches. Sie kommt den Anweisungen der Kreisleitung, die Synagoge in Brand zu setzen, nicht nach.
23.00 Uhr
Der SA-Kreisleiter Dr. Gräßner bedrängt in der Nacht zum 10. November in wiederholten Anrufen den Ortsgruppenleiter Walting, Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung zu veranlassen.
10. November 1938
03.30 Uhr
Walting sucht gegen 0.30 Uhr in Begleitung zweier Parteifunktionäre den Kreisleiter in Minden auf. Dieser hält ihn unter Androhung von Parteisanktionen erneut zur Durchführung von Übergriffen in Petershagen an.
08.00 Uhr
Am Morgen des 10. November kommen Walting und der Polizeiwachtmeister Lampe darin überein, die Inneneinrichtung der Synagoge zu zerstören, um eine Vergeltungsmaßnahme gegen die Ortsgruppe abzuwenden.
08.30 Uhr
Walting beauftragt den Binnenschiffer Hartmann und den Altwarenhändler Göhmann mit dem Zerstörungswerk.
09.00 Uhr
Unter der Aufsicht von Wachtmeister Lampe, der den Gottesdienstraum mit einem Schlüssel öffnet, zerschlagen Hartmann und Göhmann, die mit einer Axt und einem Hammer ausgerüstet sind, die Bänke des Gottesdienstraumes.
10.30 Uhr
Im Laufe des Vormittags kommt es zu einem Kontrollgang durch die Mindener SA. Kreisleiter Dr. Gräßner, der frühere Ortsgruppenleiter Buchmeyer sowie ein bislang Unbekannter in SA-Uniform äußern ihr Missfallen über die aus ihrer Sicht nur unzulänglich durchgeführten Zerstörungen. Lampe erteilt daraufhin den Auftrag zu einer weitergehenden Verwüstung der Inneneinrichtung, der nun der Kronleuchter und vermutlich die Kultgegenstände zum Opfer fallen. Der Kontrollgang erstreckt sich auch auf das Haus des Sanitätsrates Dr. Oppenheim. Der PKW der Familie wird beschlagnahmt.
13.00 Uhr
Gegen Mittag versammelt sich vor dem Gebäude eine Menschenmenge, die auf das in aller Stille durchgeführte Zerstörungswerk aufmerksam geworden ist.
14.00 Uhr
Das Archivgut der Jüdischen Gemeinde wird gegen 14.00 Uhr neben dem Thoraschrein angehäuft und verbrannt. Nach Abschluss der Zerstörungen verlassen die Täter gemeinsam das Gotteshaus, wobei sie das Gebäude verschließen.
17.00 Uhr
Im Verlauf des Nachmittags kommt es in der Ortschaft zu judenfeindlichen Ausschreitungen, an denen sich örtliche Parteimitglieder beteiligen. Wachtmeister Lampe erteilt Petershäger Kindern den Auftrag, die Fensterscheiben der jüdischen Häuser einzuschlagen. An diesem Tag werden im Rahmen von Massenverhaftungen die männlichen Juden des Ortes in das KZ Buchenwald gebracht.
18.00 Uhr
Unabhängig von den Vorgängen in Petershagen sammelt bei Anbruch der Dämmerung der SA-Standartenführer Wilhelm Freimuth den Hilfsarbeiterweiter Wilhelm List, den Schlachter Albert Hannemann und den Neesener Bürgermeister Wessel um sich, um zusammen mit ihnen als motorisiertes, vierköpfiges Rollkommando Zerstörungen an jüdischem Besitz im Mindener Land vorzunehmen.
22.00 Uhr
Das Rollkommando hinterlässt mit seiner Vergeltungsaktion in den Ortschaften Hausberge, Steinbergen, Vennebeck, Petershagen und Ovenstädt eine Spur der Verwüstung. Der Personenwagen mit den vier Insassen bleibt mit Motorschaden südlichen Ortseingang von Petershagen liegen. Standartenführer Freimuth sucht mit seiner Gruppe in äußerst betrunkenem Zustand die Gaststätte Hartmann auf, um auch weiterhin dem Alkohol zuzusprechen.
22.15 Uhr
Freimuth äußert sich dem Gastwirt gegenüber prahlerisch: „Ihr Petershäger Scheißkerle, wenn ihr das nicht erledigen könnt, dann müssen wir extra dazu hierher kommen.“ Mit der Pistole in der Hand fordert er zum Bierausschank auf. Es kommt zu Streitigkeiten, in deren Verlauf Warnschüsse abgegeben werden.
22.45 Uhr
Der Neesener Schlachtermeister Achilles trifft nach der Reparatur des Personenwagens in der Gaststätte Hartmann auf zehn bis fünfzehn betrunkene SA-Männer. Dem Freimuth’schen Rollkommando haben sich zu dieser Zeit mindestens sechs Petershäger aus parteinahen Kreisen angeschlossen.
23.00 Uhr
Zu vorgerückter Stunde erteilt Freimuth den Befehl, die Straße aufzusuchen. Strahlenförmig setzen einzelne Teilgruppen des Kommandos die von Juden bewohnten Häuser in der Alt- und Neustadt in Brand. Die Brandstiftungen verlaufen unkoordiniert. Die Feuer werden von den Betroffenen, deren Nachbarn und zum Teil von der herbeigerufenen Feuerwehr gelöscht, ohne dass größere Gebäudeschäden entstehen.
Nach mündlicher Überlieferung tritt das Hausmeisterehepaar Michel, das das westliche Synagogengebäude, das später in ihr Eigentum überging, bewohnte, dem Freimuth’schen Kommando entgegen. Es soll ein Anzünden der Synagoge und das mögliche Übergreifen eines Brandes auf die Altstadt verhindert haben.
11. November 1938
00.00 Uhr
Freimuth, Hannemann und List begeben sich in ihrem Wagen nach Ovenstädt und Schlüsselburg, um dort mit dem Vandalismus fortzufahren. Während es laut Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft Bielefeld in Schlüsselburg zu keinen Ausschreitungen kommt, wird in Ovenstädt das auf dem Wege liegende Manufakturwarengeschäft Mendel verwüstet.
03.30 Uhr
Nach Abschluss der Brandbekämpfung um 03.30 Uhr patrouillieren die Polizeibeamten Lampe und Kutzbach sowie der Ortsgruppenleiter Walting in der Ortschaft, da sie eine Rückkehr des Rollkommandos befürchten.
Uwe Jacobsen (2003)
*
“Die Ortsgruppe der NSDAP gedachte am 09.11.1938 im Rahmen einer Feierstunde des gescheiterten Hitlerputsches. Sie kam den Anweisungen der Kreisleitung, die Synagoge in Brand zu setzen, auf Veranlassung des sich dagegen sträubenden Ortsgruppenleiters Ferdinand Walting zunächst nicht nach, „obwohl seitens höherer Parteidienststellen mehrfach ausdrücklich solche Ausschreitungen, insbesondere aber die Inbrandsetzung der Synagoge, verlangt worden“ waren.
SA-Kreisleiter Dr. Gräßner forderte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in wiederholten Telefonaten den Ortsgruppenleiter Walting auf, Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Petershagen zu initiieren. In Begleitung der Parteifunktionäre Fritz Kuloge und Rudolf Kruse suchte Walting nachts gegen 03.30 Uhr den Kreisleiter in Minden auf. Dieser hielt sie unter Androhung von Parteisanktionen zu Übergriffen in Petershagen an. „Durch die Bekundungen der früheren Zellenleiter in der Spruchgerichtsakte ist seine Einlassung, er sei von dem Kreisleiter in Minden heftig bedrängt worden, bestätigt worden.“
Am Morgen des 10. November kamen Walting und der Polizeiwachtmeister Lampe darin überein, die Inneneinrichtung der Synagoge zu zerstören. Walting beauftragte den Binnenschiffer Hartmann sowie den Altwarenhändler Göhmann, die nicht Mitglieder der NSDAP waren, mit dem Zerstörungswerk. Die Aufsicht erhielt Polizeimeister Lampe, da Walting seine Zahnarztpraxis in Ovenstädt aufsuchen musste. Vor der Synagoge trafen sich nun Lampe, Hartmann und Göhmann, um ohne Aufsehen mit der Zerschlagung des Mobiliars zu beginnen. Hartmann war mit einer Axt ausgerüstet, Göhmann mit einem Hammer. Lampe öffnete mit dem Schlüssel die Eingangstür zum Synagogenraum, die sich im Hausflur der nach Westen angrenzenden Hausmeisterwohnung, der ehemaligen jüdischen Schule, befand. Die Tür wurde nicht gewaltsam aufgebrochen. Auf Anweisung des Wachtmeisters begannen Hartmann und Göhmann mit dem Zerschlagen der Bänke: „Es wurde alles zerstört, was an Inneneinrichtung vorhanden war. Es ist auch richtig, daß noch zwei Säulen abmontiert werden sollten, die eine kleine Empore [trugen]. Zum Zerstören dieser Säulen kam es jedoch nicht.“
Zitiert nach: Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen e.V. (Hrsg.): Alte Synagoge Petershagen. Menschen – Spuren – Wege. Petershagen 2004 (Zugleich: Jacobsen, Uwe und Battermann, Wolfgang (Hrsg.): Historisches Jahrbuch Petershagen. Band 2, 2003-2004. Petershagen: Im Selbstverlag der Ortsheimatpflege, 2004, S. 114 ff.).